emine's garden
Kunsthalle Sankt Gallen
2023
Bezeichnend für die Malerei von Melike Kara (*1985, lebt und arbeitet in Köln/DE) ist der experimentierfreudige Umgang mit Oberflächen, die z.B. mit dicken Ölpastellen behandelt werden oder die Verwendung von fremden Materialien wie unter anderem Textilien. Das Werk der Künstlerin bedient sich dem Schreiben von Gedichten sowie der Skulpturen, Videos und weiteren Medien, immer auf der Suche nach einer Vielschichtigkeit auf formaler sowie inhaltlicher Ebene.
In «Emine`s Garden» – ein Verweis auf den Garten ihrer Grossmutter – setzt Kara ihre Erforschung kurdischer Traditionen und Fragen nach Historisierung und Gemeinschaft fort. Fotografische Abbildungen, Leinwände und ornamentale Gips– reliefs verbinden sich hier zu einer raumgreifenden Installation und verwandeln die Räume der Kunst Halle in ein wucherndes visuelles Archiv.
Die Fotografievergrösserungen stammen von Familienmitgliedern und Karas erweitertem Beziehungsnetzwerk, die die Künstlerin in einem wachsenden Archiv fortlaufend zusammenträgt, ohne aber eine bestimmte Ordnung zu suchen. Die Bilder bewirken in ihren Dimensionen eine ambivalente Intimität: nah und doch entrückt, so dass an manchen Stellen kleinste Details an Bedeutung gewinnen, während sich andere, bedeckt vom milchigen Schleier der Acrylfarbe, gänzlich der Betrachtung entziehen. Gleichzeitig erhalten sie eine neue Plastizität, die physisch erfahrbar ist, während die scheinbar verblassten Abbilder Darstellungsversuche des Festhaltens und Erinnerns markieren.
Auf dem von der Künstlerin gelegten Weg, der durch die Räume führt, kommt man somit nicht umhin, sich in ihre Bilderwelt zu begeben. Die mosaikartige Anordnung verdeutlicht um ein Weiteres das Fragmentarische und Lückenhafte, das Karas Untersuchung von Identitätskonstruktionen und Herkunft innewohnt. Nicht aber um damit die Lücken als Leerstellen hervorzuheben, sondern als eine Art Verteidigung von Opazität, die Undurchsichtigkeit als Potenzial eines Selbst, das nie vollständig erfassbar und damit frei von Eingrenzungen ist.
In Verbindung mit den liegenden Leinwänden offenbart sich die Installation als eine Reihe von Meditationen über kollektive Bilder und Momente. Wie die Fotografien zeichnen sich auch die Gemälde durch ihre Fähigkeit aus, die Zeit ihrer Entstehung zu speichern. Angelehnt an verschiedene Webtechniken und Bräuche, abstrahiert, schichtet und verwebt Kara in den Gemälden und als Muster auf dem Boden ihre Familiengeschichte mit kurdischen Tapisserie-Motiven aus verschiedenen Regionen.
Während in der Geschichte der kurdischen Weberei das Aneignen von formalen Elementen eine gängige Praxis ist, hat ebenfalls die wiederholte Zwangsumsiedlung zu Anpassungen der Motive und Knüpftechniken an die Umgebung geführt. Als Sammlung verschiedener Zeitakkumulationen bergen die Gemälde von Kara seinerseits eine Vielzahl von Referenzen und Erweiterungen, deren Spuren aus Ölstift auf der Leinwand zu sehen sind. In den Werktiteln wie zum Beispiel girdi tribe / tij (2023) finden sich Hinweise zu den Orten oder Stämmen, von denen die Formen inspiriert sind. Damit agieren sie sowohl als ästhetische Reflexionen wie auch als lebendige Darstellungen einer visuellen und kulturellen Tradition, der körperlich von der Künstlerin Ausdruck verliehen wird.
Die Pluralität von persönlichen Erzählungen und überlieferten Motiven widerspiegelt sich in den vielen Schichten und Verwebungen in der Ausstellung, in der das Singuläre und das Kollektive aufeinander beruhen, anstatt sich gegenseitig zu reduzieren. Die horizontale Hierarchisierung, die die Malerei als Medium legitimiert und ihr Autorität verleiht, wird zu Gunsten einer vertikalen Anordnung aufgegeben. So werden die Gemälde losgelöst von den Ausstellungswänden als Bestandteil einer vielschichtigen und kaleidoskopischen Gesamtheit präsentiert.
Ähnlich unterwandert Kara auch im dritten Ausstellungsraum modernistische Paradigmen der Malerei, die sich auf die transzendentale Erfahrung der Abstraktion als ‹absolute Kulturerfahrung› berufen. Obschon in der Linearität scheinbar einer Abstraktion verpflichtet, weisen die präzis gezogenen Gipsstreifen eine Fragilität auf und wurden durch Blumenmuster erweitert; Abweichungen durch die Kara eine neue Bildkultur der zeitlichen, räumlichen und imaginativen Überlagerung realisiert. In der Sammlung und Neuanordnung des materiellen Erbes, sowie der Kombination mit gestisch-abstrakten Kompositionen entfaltet sich so der persönliche Blick Melike Karas als intime Erzählung der eigenen Familiengeschichte sowie der visuellen Kultur der kurdischen Diaspora. Die grossflächige Benutzung des Raumes vollzieht sich als intime und zugleich politische Geste, die Aneignung und Besetzung thematisiert. So wird der im Verschwinden begriffenen Bevölkerung, deren Kultur nur durch informelle Kanäle und mündliche Überlieferungen aufrecht- erhalten wird, und ihrer Geschichte, Sichtbarkeit verliehen.
Der Garten, eine Ableitung aus dem indogermanischen Wort ‹ghorto› (übersetzt Flechtwerk), bildet den metaphorischen und formalen Rahmen der Ausstellung, die damit dem Potenzial von Wachstum, Pflege und Verknüpfungen nachspürt. Die Mehrdeutigkeit zwischen Abstraktion und Figuration, Individuum und Kollektivität, die in der Technik des Knüpfens und der Symbolik des Gartens angelegt ist, konstituiert sich in der Zeugenschaft einer kollektiven Bildsprache und zugleich der ganz eigenen der Künstlerin.